Das "Gewissen der Nation"
Abbé Pierre ist wegen seines Engagements für
Randgruppen einer der beliebtesten Franzosen
Mannheimer Morgen 05.08.2002
Von unserem Korrespondenten Joachim Rogge
Paris. Das schmale Gesicht mit dem weißen Bart, der
dicken Hornbrille und der Baskenmütze auf dem Kopf kennt
in Frankreich praktisch jedes Kind: Abbé Pierre gilt als
das moralische "Gewissen der Nation", gehört in Umfragen unangefochten
stets zu den beliebtesten Persönlichkeiten des Landes. Heute
05.08.2002
wird der französische Priester, der sein Leben den
Armen und Ausgestoßenen dieser Welt gewidmet hat, 90 Jahre alt.
1949, in den bitterarmen Pariser Nachkriegsjahren, legte
der Priester den Grundstein für die heute weltweit agierende
Bewegung der Emmaus-Gemeinschaften. Mit 18 Obdachlosen besetzte
Abbé Pierre, der 1912 als Henri Grouès in Lyon als
fünftes von acht Kindern eines wohlhabenden Seidenhändlers
geboren wurde, ein Haus. In 35 Ländern auf allen fünf Kontinenten
ist Emmaus inzwischen aktiv, finanziert die Hilfe für sozial
Benachteiligte, Ex-Häftlinge und Alkoholkranke durch Spenden
und den Verkauf von Möbeln und Kleidern.
Ein Leben für die Armen, vor allem für die Obdachlosen
- sein eigenes Erbe hatte Abbé Pierre, der in der Resistance
gegen die deutsche Besatzung kämpfte, Flüchtlinge
in die Schweiz lotste und seither seinen heutigen Namen trägt,
verschenkt. Ein Parlamentsmandat in der ersten Nachkriegszeit
blieb nur ein kurzes Intermezzo. Gegen jede Ungerechtigkeit erhob
er seine Stimme, prangerte Frankreichs Politiker an, zu wenig für
die Armen im Land zu tun. In den 60er Jahre warb er um Verständnis
für die Kriegsdienstverweigerer der Kolonialkriege, solidarisierte
sich mit den Befreiungstheologen Südamerikas, setzte sich
bereits für Aids-Kranke ein, als andere darin noch eine "Geißel
Gottes" für allzu losen Lebenswandel sahen.
Mit dem Vatikan lag der streitbare Priester, der inzwischen
längst die höchsten französischen Orden trägt,
eigentlich immer über Kreuz, prangerte das Kondomverbot
und das Zölibat an. Der Vatikan ließ ihn gewähren,
das Verhältnis zur katholischen Kirche Frankreichs war
schon belastet genug. Persönlichen Mut hat er noch im hohen Alter
bewiesen, als er 1995 ins belagerte Sarajewo reiste und anschließend
einen Militäreinsatz der Nato einforderte...
In der letzten Zeit hat sich Abbé Pierre, von Auftritten
vor der Präsidentschaftswahl abgesehen, rar gemacht. Seine
Gesundheit ist nicht die beste...
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