Meine Wurzeln liegen in einem ganz romantischen Fleckchen Erde im schwäbischen Oberland zu Füßen des Stammschlosses der Grafen von Königsegg im heutigen Landkreis Ravensburg, dort "wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagen". Als Älteste von sechs Kindern habe ich bewusst die Sorgen meiner Eltern in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg erlebt. Vielleicht kann ich hier noch einfügen: Mein Vater hatte zwei Missions-Zeitschriften abonniert, eine herausgegeben vom Päpstlichen Werk der Glaubensverbreitung, die andere von den Steyler Missionaren. So entstanden die ersten Kontakte zur "Weltmission". Nach dem Schulabschluss machte ich eine dreijährige Lehre in Maßschneiderei und legte die Gesellenprüfung ab. Die folgenden Jahre sah ich als einen Übergang für meine heimlichen Überlegungen. Meine Mutter hatte es wohl erspürt. Als Freiwillige im Reichsarbeitsdienst versuchte ich 1937 einen ersten Ausbruch aus meinem Elternhaus, der mir zunächst gründlich misslungen war, weil im Mutterhaus des Deutschen Roten Kreuzes in Karlsruhe nur Volljährige als Schülerinnen aufgenommen wurden. Doch bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hielt mich auch der Unwillen meines Vaters nicht mehr zurück. Ich wollte auch "etwas tun, helfen" - um Gottes Willen den Menschen helfen. Im März 1940 begann meine Ausbildung in der Krankenpflege als Schülerin der Schwesternschule des DRK in Mannheim. Bereits im Dezember 1942 erhielt ich den Stellungsbefehl und die Einberufung zum Heeressanitätsdienst für einen Einsatz im Kaukasus. Die Fahrt im Sonderzug von Berlin über Lemberg im Februar 1943 war in Dnjepropetrowsk, in der heutigen Ukraine gelegen, zu Ende. Dann folgte der etappenweise Rückzug mit kleinen Einsätzen. Ein letzter Einsatz unseres einst motorisierten Kriegslazaretts war in Cortina d‘Ampezzo in Italien. Als im Mai 1945 amerikanische Soldaten einzogen, wurde ich als "Gefangene" mit einem Teil des Sanitätspersonals für einen kurzen Einsatz nach Meran gebracht, von dort in die Kaserne nach Bozen, dann ins Entlassungslager nach Bad Aibling. Im September wurden wir Frauen endlich auf offenen Lastwagen dahin gebracht, von wo wir auszogen; ich kehrte zurück nach Mannheim, ins Städtische Krankenhaus. Zwei Jahre als Stationsschwester der medizinischen Aufnahmestation versetzten mich in die Realität der Nachkriegszeit in einer zerbombten Stadt. Aller Not zum Trotz (Währungsreform 1948!) wagte ich mit dem ersparten Geld eine zweijährige Ausbildung zur Sozialarbeiterin und Seelsorgehelferin an der Katholischen Sozialen Frauenschule Heidelberg. Das Jahrespraktikum zur staatlichen Anerkennung absolvierte ich am Staatlichen Gesundheitsamt meiner Heimat-Kreisstadt. Aus dem Verband des DRK hatte ich mich gelöst, weil die zugedachte Planstelle aufgelöst war. S"uchet, dann werdet ihr finden" (Lk. 11,9-11) im Verlauf des Praktikums begegnete ich einem Urlauber-Missionar, der im Hochland der Philippinen arbeitete. In einem Vortrag vor Studenten sprach er mit überzeugenden Worten, dass in der Missionsarbeit neben Ordensleuten Laien mit geeigneten Voraussetzungen unbedingt notwendig seien. Diese Worte haben mich tief getroffen und nicht mehr losgelassen. Ich glaubte das gefunden zu haben, was ich suchte und worauf ich mich auch unbewusst vorbereitet hatte. Der Theologe Johannes Bours sagt: "Der Mensch wird des Weges geführt, den er wählt". Den Missionar bat ich um die Adresse eines Missionsinstitutes für Laien. Sie lautete: "Missionsärztliches Institut Würzburg". Nach einem kurzen Vorstellungsgespräch beim damaligen Direktor, P. Dr. med. Friedrich Jahn, war ich bereit, am 2. Januar 1951 mit noch einigen Weggefährtinnen den Vorbereitungskurs in der Friedenstraße 3 in Würzburg für einen baldigen Missionseinsatz zu beginnen. Unser Traumland war Afrika! Wir wurden u. a. auf den Sendungsauftrag der Kirche hingewiesen und auf ein Leben in der Nachfolge Jesu. In dieser Zeit wurde Englisch gelernt, auch ein Führerschein fürs nicht vorhandene Auto erworben. Etwa vier Monate lang hatte ich eine Halbtagsstelle in der medizinischen Aufnahmestation der Uniklinik, um etwas für unseren Unterhalt beizutragen. In einem Wasserschloss in Mersch, das die Besitzerin zur Verfügung gestellt hatte, nahmen wir an einem "Intensivkurs" teil. Im Oktober 1951 legte ich das erste zehnjährige Versprechen "zur dienenden Mitarbeit am Missionswerk der Kirche" im Missionsärztlichen Institut ab. Unser Sendungsauftrag war wie in Lk. 9,10: "Heilet die Kranken, die dort sind und sagt den Leuten, das Reich Gottes ist euch nahe". Das ist die große Herausforderung an jeden persönlich. Aus der Diözese Poona/Indien kam die dringende Bitte um Ärzte/innen und Krankenschwestern für ein noch zu erstellendes Krankenhaus in einer ländlichen Gegend der Jesuiten-Mission. Sr. Christine Ott und ich rüsteten uns für die Aussendung am 6. Januar 1952 durch Prälat Mund von Missio Aachen. Er meinte u. a., dass wir "einen großen Hunger und einen guten Magen benötigten, um die Bissen und Brocken zu kauen und zu verdauen". Doch das Ziel vor Augen ließ uns unerschüttert. Ein großes Gottvertrauen stärkte und begleitete uns. Die Reise führte uns zunächst nach Zürich. Durch den Provinzial der Jesuiten sollten wir den Wohltätern des Krankenhauses in Shrirampur vorgestellt werden. Er wünschte eine nochmalige Aussendungsfeier durch den japanischen Bischof Akira Okihara SJ. Die Vielfalt von Begegnungen ergaben immerhin 1.000 Schweizer Franken. "Reich geworden" an Geld, Schokolade und Kaffee begann unsere Schiffsreise in Neapel. In Bombay angekommen und nach einigen Stunden ungeduldigen und angstvollen Wartens erschienen zwei weißgekleidete Gestalten, P. Lustig SJ und Br. Herbert SJ, die uns mit dem Jeep nach Poona brachten. Dort wurden wir dem Bischof vorgestellt und Mutter Anna Dengel, der Gründerin der Missionsärztlichen Schwestern. Sie verabschiedete uns mit einer großen, gerade aus Amerika importierten Schachtel Pralinen für die lange Bahnreise von Poona nach Bezwada an der Ostküste Indiens. Im großen Missionshospital der Luzerner St. Anna Schwestern sammelten wir erste Erfahrungen. Die feuchte Hitze war fast unerträglich und ich war froh, als ich von Frau Dr. Betz nach Rahata, einem kleinen Dorf nahe Shrirampur, gerufen wurde, um Marathi, die Sprache des Staates Maharashtra, zu erlernen. Sie hat ihre Wurzeln im Sanskrit und demzufolge eine eigene Schrift. Das Hospital in Shrirampur war am Entstehen. An einem Nicht-Regentag fuhr P. Meyer SJ Sr. Christine und mich im Jeep querfeldein in ein Dorf, wo wir eine Frau besuchten, die von Kopf bis Fuß mit einem nässenden Ekzem bedeckt war. Wir reinigten die Haut und trugen am ganzen Körper Zinksalbe auf. Nach einigen Wiederholungen dieser Behandlung zeigte sich ein "wunderbarer" Erfolg; die Patientin, die ganze Familie und wir waren überglücklich. Bei jedem Besuch wiederholte sich das Zeremoniell des Teetrinkens: Der heiße, süße Tee wurde in dicken Tassen mit dunklen, krustigen Belägen angeboten. P. Meyer sagte dazu: "Schwester, alles meinem Gott zu Ehren" - der Tee schmeckte uns sogar! Immer wieder dachte ich in ähnlichen Situationen an diese hilfreiche Erfahrung zurück. Der erste Versuch, in der kleinen Ambulanz (ohne Arzt) einen riesigen Abszess am Po eines Kleinkindes mit einem ausgekochten Rasiermesser zu öffnen und einem gebügelten Gazestreifen zu tamponieren, gelang. Im November 1953 war die feierliche Eröffnung des St. Lukes Hospitals in Shrirampur durch den Bischof von Poona. Schwesternhaus und Hospital waren bezugsfertig. In der Ambulanz im Hospital stauten sich die Patienten. Die erste Bauchoperation wegen entzündetem Blinddarm mit Äther-Tropfnarkose bei Petroleumlicht verlief gut. Gott sei Dank! Missverständnisse durch Sprachschwierigkeiten konnten sehr peinlich sein, wurden aber meistens mit Lächeln quittiert. Bald war der gute Ruf der "German Ambulance" und des Hospitals weit ins Land gedrungen. Alle Patienten wurden unterschiedslos behandelt. Unser Dienst galt allen, die Hilfe und Heilung suchten, ganz besonders den Armen und Ärmsten. Anfang 1956 fragte der Bischof von Jhansi im Norden Indiens an, ob wir bereit wären, in einem leerstehenden Schulgebäude ein Krankenhaus einzurichten. Ich erklärte mich bereit für diesen Neuanfang. Die Sprache dort ist Hindi, die Schrift dem bereits bekannten Marathi gleich; das Klima ist mörderisch heiß und trocken. Im Herbst desselben Jahres war die feierliche Eröffnung, zu welcher der damalige Direktor des Instituts, Pater Eugen Prucker OSA, aus Würzburg kam; ihm begegnete ich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal. Mein nächster Einsatz führte mich 1960 nach Chetput in Südindien, um die Neuankömmlinge unserer Gemeinschaft, Dr. Maria Aschhoff und Sr. Gertrud Scherner, beim Aufbau des Leprazentrums zu unterstützen. Wir bewohnten ein kleines Haus mit Ziehbrunnen, unbedachtem Klosett und Rattenbesuchen. Ein altes Gebäude mit dicken Mauern und drohenden Balken diente als erste Ambulanz. Meist aber wurden die Patienten unter großen, schattigen Bäumen behandelt. Unvergesslich bleibt mir der Besuch von Monsieur Raoul Foullereau, dem weltbekannten Leprologen und Gründer des bei uns bekannten Lepratages. Seine Frau sagte beim Verlassen der Ambulanz: "How poor!" 1961 verbrachte ich sieben Monate in Kerala, Südindien, um auf Wunsch des Bischofs von Kottyam Kandidatinnen seiner diözesanen Gemeinschaft auf ihren Einsatz im entstehenden Hospital vorzubereiten. 1962 wechselte ich in ein anderes Land, nach Pakistan. P. Direktor Prucker sagte mir, dass ich in Sarghodha in der Diözese Rawalpindi ein Krankenhaus aufbauen sollte. Auf meine Antwort: "Das kann ich nicht", erwiderte er: Dann geh um Gottes Willen". So bin ich im Gehorsam einige Monate später in dieses islamische Land gereist. Frau Dr. Maria Kohlborn und einige Schwestern arbeiteten dort seit Anfang 1960 in einem ehemaligen Schulgebäude bis wir 1966, nach dem Indien/Pakistan-Krieg, ins neuerbaute Hospital einziehen konnten. Der Bau war mit sehr viel Schwierigkeiten verbunden. Zement war zeitweise nur auf dem Schwarzmarkt zu horrenden Preisen erhältlich. Mit Hilfe eines Empfehlungsschreibens vom Kommissar der Stadt Sarghodha erhielt ich schließlich bei vielen Besuchen in den Zementfabriken des Landes einen ganzen Waggon Zement. Ich jubelte! Was dies für mich "kleine Schwester" bedeutete, durch die großen, nur von Männern besetzten Büros bis hin zum Schreibtisch des Managers vorzudringen! Der übrige notwendige Zement wurde mit Hilfe der Einfuhrgenehmigung durch den Catholic Relief Service in Karachi aus Deutschland, England und China eingeführt. Wegen der islamischen Regierung musste der Name des neuen Hospitals in Fatima Hospital umgeändert werden. 1969 musste ich meine "missionarische Beweglichkeit" erneut beweisen. Diesmal wurde ich in einen anderen Kontinent geschickt, nach Klein-Windhoek in Südwestafrika (heute Namibia), um die Missions-Benediktinerinnen auf der Missionsstation und im Schülerheim abzulösen. Ca. 80-120 weiße Jungen im Alter von 6-17 Jahren wurden von einem holländischen Schulbruder betreut. Meine Mitarbeit war hauptsächlich im Gesundheits- und hygienischen Bereich gefragt; praktisch war ich "Mädchen für Alles". Auf Bitte des Bischofs von Windhoek sollte ich in Katatura, einer "schwarzen" Township Windhoeks einen Kindergarten einrichten. Bei der Arbeit im Pfarrbüro lernte ich die Gemeinde kennen und konnte bei Hausbesuchen einem meiner erlernten Berufe, dem der Sozialarbeiterin, nachkommen. - Wegen Schwierigkeiten mit meinen Augen musste ich 1978 das liebgewonnene Südwestafrika verlassen. Von 1978 bis 1987 arbeitete ich in der Apotheke des Missionsärztlichen Instituts und nach deren Auflösung in der Pflegemittelabgabe. Dazwischen führte mich eine letzte Etappe 1984 nochmals nach Indien, nach Goa, wo ich in einem Ashram für Drogensüchtige internationaler Herkunft arbeitete, der von einem deutschen Pallottiner geleitet wurde. Nach sechs Monaten wurde meine Aufenthaltsgenehmigung nicht mehr verlängert. Dieser letzte und kürzeste Einsatz war eine interessante Zeit, aber auch eine große Herausforderung. Vom damaligen Direktor des Missionsärztlichen Instituts, P. Eugen Prucker OSA, kam 1953 die Anfrage nach Indien, ob wir uns der neu gegründeten "Gemeinschaft der Missionshelferinnen" anschließen wollten. Mit unserem Ja waren wir, Sr. Christine Ott und ich somit die ersten Mitglieder. Das Missionsärztliche Institut und die Gemeinschaft der Missionshelferinnen blieben für mich in all den Jahren Heimat zum tiefen Aus- und Einatmen, zum Leerwerden und Auftanken. Und, der Ausspruch von Kardinal Faulhaber: "Die Schlachten auf den Missionsfeldern werden vor den Tabernakeln der Heimat geschlagen" war mir immer wieder spürbare Hilfe.
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