Barnabas Stephan ZWISCHEN JERUSALEM UND JERICHO Aus der Predigt von Pater Barnabas Stephan beim Sommerfest 2003 Missionsärztliches Institut Würzburg ... "Es ist nicht im Himmel, so dass du sagen müsstest: Wer steigt für uns in den Himmel hinauf, holt es herunter und verkündet es uns, damit wir es halten können?" (Dtn 30,12), und ... "Es ist auch nicht jenseits des Meeres, so dass du sagen müsstest: Wer fährt uns über das Meer, holt es herüber und verkündet es uns, damit wir es halten können ?" (Dtn 30,13) Die wenigen Sätze dieser Lesung haben es in sich. Sie können uns erinnern und entlasten, wenn wir uns das Leben mit Gott zu kompliziert vorstellen, wenn wir uns selbst im Wege stehen. Sie können uns ermutigen, wenn wir von uns selbst und voneinander zu viel verlangen und uns durch zu hohe Erwartungen überfordern. Sie verweisen uns auf das Nächstliegende, das wir manchmal übersehen und übergehen. Sie verweisen uns auf uns selbst. Sie sind für mich eine erneute Einladung, nach innen zu hören, zu lauschen: "Meine Ohren nach innen zu falten", wie es in einem modernen Gedicht von Huub Osterhuis heißt. Christen sind Idealisten. Als Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu haben wir hohe Ideale. Das soll nicht aufgegeben werden. Ebenso wenig soll aber davon ausgegangen werden, die Ideale könnten vollständig erfüllbar sein. Unser Auftrag ist es, mit dieser Unvollständigkeit zu leben ohne das Ideal aufzugeben und ohne an der Unerfüllbarkeit dauerhaft zu leiden. Im Alltag erweist sich, wie anspruchsvoll dieser Auftrag ist. Die Erzählung vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) bringt uns unmittelbar mit unserem eigenen Alltag in Berührung. Und über diese Geschichte lässt sich kaum reden ohne dass eigene Beispiele einfallen und sich die Frage nach den Nächsten in der eigenen Umgebung stellt. Das erste, was uns diese Geschichte sagen will, ist dies: Die Nagelprobe unseres Glaubens findet im Alltag statt. "Wer ist mein Nächster?" Dies ist nicht theoretisch vom grünen Tisch her oder durch kluge akademische Äußerungen zu beantworten, sondern einzig und allein durch mein Leben, durch das "Sich-einlassen". Mein Nächster ist der, der mich braucht, und zwar dringend braucht, unabhängig von der Entfernung. "Wer ist mein Nächster?" Das ist auch eine Grundfrage an uns als Einzelne, als Missionsärztliches Institut und als Missionsärztliche Klinik. Hier ist immer wieder Phantasie und Mut zu neuen Wegen nötig. Mich belastet es öfters, wenn ich miterlebe, wie häufig es auch einen unnötigen Kräfteverschleiß gibt. Da ist ein blinder Eifer, der übers Ziel hinausschießt und andere zutiefst verletzt und blockiert, eine Überempfindlichkeit, die sich dann im Gefühl des ,Zu-kurz-gekommen-seins' und im Gefühl des ,Zu-wenig-beachtet-werdens' äußert. Da ist ein falsches Konkurrenzdenken zwischen verschiedenen Personen und Gruppierungen, eine falsche Ängstlichkeit gegenüber anderen Wegen als meinem Weg. Dies alles blockiert Kräfte - Kräfte, die für den Nächsten eingesetzt werden könnten. Der Nächste hat viele Gesichter. Nicht auf eine Definition des Nächsten kommt es an, sondern auf die Dringlichkeit, mit der gerade von mir in der konkreten Situation, in der konkreten Not erwartet wird Hand anzulegen. Den Nächsten kann ich mir nicht aussuchen, sondern er ist da. Der Nächste ist oft auch mir unbequem, er geht mir auf den Wecker, er verunsichert mich, er nervt mich mit seinem Geschwätz, mit seiner Art bringt er mich auf die Palme. Aber: Er ist und bleibt mein Nächster. Mein Nächster, das ist der Sohn, der ganz anders geworden ist, als ich es mir vorgestellt habe. Mein Nächster, das ist die Mutter oder der Vater, die nicht begreifen können, was die Tochter für Ansichten hat. Mein Nächster, das ist mein älterer Arbeitskollege, der merkt, dass er seinen Leistungshöhepunkt erreicht hat und der Angst hat vor dem Loch der Pensionierung. Mein Nächster, das ist eine Frau in unserer Strasse, die mit vielen Anforderungen nicht mehr fertig wird. Mein Nächster ist mein Nachbar, der anders lebt als ich und auch politisch anders denkt. Mein Nächster bleibt mein Nächster, auch wenn seine Not nicht mehr in den Schlagzeilen steht oder öffentlich davon gesprochen wird. Dies ist z. B. bei vielen Todesfällen wichtig, wo die eigentliche Not, Einsamkeit und Trauer oft erst nach vier oder sechs Wochen kommt, oder bei den vielen Langzeitkranken, wo der lange Atem nötig ist immer wieder einen Besuch zu machen. Leider ist es zu oft der Fall, dass solche Ereignisse zu schnell vergessen werden. Das zweite, das mir bei dieser Geschichte vom barmherzigen Samariter auffällt, ist dies: Echtes Helfen verzichtet auf Aufrechnen: "Was bringt es? Was tut der andere mir?" Das sind verständliche Fragen, aber nicht angebracht. Großzügigkeit des spontanen Schenkens, hergeben können, loslassen können, das sind Merkmale wirklichen Helfens. Das dritte, das mir bei unserem heutigen Evangelium wichtig erscheint, ist dies: Die Gottes-, Nächsten- und Eigenliebe gehören untrennbar zusammen. "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" - so heißt es. Mir scheint dies bedeutsam zu sein. Wenn ich mit mir selber ganz verstritten und uneins bin, fehlt mir die Fähigkeit auf andere zuzugehen. "Auch ich bin jemand." Daher darf ich mich auch selber nicht zu weit zurücknehmen, denn sonst kann ich dem anderen nicht mehr helfen. Und ich selber bin auch immer auf Hilfe angewiesen. Des weiteren lassen sich auch die Gottes- und die Nächstenliebe nicht gegeneinander ausspielen, sondern sie gehören, richtig verstanden, untrennbar zusammen. Dorothea von Gaza gebraucht hier einen treffenden Vergleich: "Stellen Sie sich einen Kreis vor, den man mit einem Stock in die Erde ritzt. Die Mitte ist Gott; die Kreislinie die Welt. Dort leben die Menschen. Wollen sie Gott näher kommen, müssen sie in das Innere des Kreises vorrücken. Und sie erfahren: Je näher sie Gott kommen, desto näher rücken sie zusammen, und je näher sie einander kommen, desto näher sind sie bei Gott." Ein weiterer wichtiger Punkt bei der Auslegung dieses Gleichnisses vom barmherzigen Samariter hat der 1945 ermordete Theologe Dietrich Bonhoeffer aufgezeigt. Bonhoeffer sagt, sicher wird derjenige, der seinem Nächsten helfen will, zunächst einmal Balsam auf die Wunden gießen und sie verbinden. Aber dabei darf der barmherzige Samariter nicht stehen bleiben. Er muss dafür sorgen, dass solche Überfälle, wie sie im Gleichnis erzählt werden, gar nicht mehr passieren können. Er muss auch dafür sorgen, dass das Übel an der Wurzel gepackt wird. Wir sehen also: Die Nagelprobe, die Bewährungsprobe, der Ernstfall unseres Glaubens findet im Alltag statt. Wirkliches Helfen verzichtet auf gegenseitiges Aufrechnen. Gottesliebe, Nächstenliebe und Eigenliebe gehören untrennbar zusammen. Richtig verstandenes Helfen heißt umfassend helfen. Wunden verbinden treibt zum Wunden verhüten. Das sind vier Grundaussagen der Geschichte vom barmherzigen Samariter. Vielleicht geht uns die Sprengkraft und die Brisanz dieser Geschichte noch mehr auf, wenn wir uns einige der Hauptdarsteller ein wenig vergegenwärtigen. Nicht israelischer Kultdiener, nicht offizielle Vertreter der jüdischen Hierarchie, die das Gebot der Nächstenliebe kannten und sich dazu bekannten, sondern ein Samariter, ein von den Juden verachteter Ausländer, ein religiöser Ketzer, ein römerfreundlicher Volksfeind half dem unter die Räuber Gefallenen und verwirklichte das Gebot der Nächstenliebe. Zwischen Jerusalem und Jericho ist diese Geschichte angesiedelt. Und dies scheint mir ein Symbol zu sein. Die Gegend um Jericho - da ist Wüste, da ist es heiß, kaum Wasser, eine lebensfeindliche Landschaft. Der Weg zwischen Jerusalem und Jericho - das ist für mich ein Symbol für unsere Welt, für die lebensbedrohenden Gefahren unserer Zeit. Daher ist dieser Weg zwischen Jerusalem und Jericho überall, für jeden einzelnen da, wo er lebt und tätig ist. ... |