Wallfahrt
Wallfahrer
gehen nicht einfach spazieren. Sie suchen einen Ort, an dem der Himmel
die Erde berührt, und ihr ganzer Körper spielt dabei mit -
vor allem die Füße.
Anthropologen haben afrikanische, amerikanische, christliche,
muslimische und andere Pilger-Traditionen studiert und drei Phasen
herausgearbeitet, die ihnen allen gemeinsam sind:
Am Anfang steht ein Prozess der Trennung vom Alltag:
Verschiedene Motive können dabei eine Rolle spielen: Schmerz,
Erschöpfung, Sinnleere, Hoffnung ... Manche Pilger unterstreichen
diesen Schritt durch äußere Zeichen: Sie legen die
übliche Kleidung ab, lassen sich die Haare schneiden oder
verfassen ein Testament, machen ein Versprechen oder Gelübde.
In der zweiten Phase tritt der Pilger ein in die Erfahrung des
Fließens. Er setzt sich neuen Landschaften aus, Unsicherheiten,
fremden Menschen. Die Welt wird zu einem größeren Ort, ein
Ort der Gefahren, Neuheiten und der auch ein wunderbares Potential
für
Freundschaft in sich birgt; der Pilger gelangt an eine Schwelle, wo
sich für ihn die Chance auftut für neue Bindungen an andere
Menschen, ebenso an heilige Kräfte, an Gott.
Manchmal verändert eine solche Erfahrung Menschen von Grund auf.
Sie blicken nun mit anderen Augen auf die Welt. Schwer tun sie sich
damit, dies in Worte zu fassen.
Der indische Priester und Theologe Raimon Panikkar bezeichnet das
Pilgern als etwas Endgültiges, als "Weg ohne Wiederkehr". Da es
auf den langen Pilgerwegen oft sehr einsam ist, gibt es keine Rettung
vor dem Tod, wenn das Herz schwach wird, erinnert er sich: "Man muss
bereit sein, das Leben zu wagen - besonders, wenn man nicht mehr jung
ist und man das Wandern in großer Höhe nicht gewohnt ist."
Während der Nacht habe er das Gefühl gehabt, dass der Tod
sich an ihn schmiegen würde: Aus dem Schlafsack steigen hilft
nichts. Man schwebt zwischen Sein und Nichtsein. Es ist keine Drohung,
es ist eine Umarmung, die friedlich tötet - für diesmal
allerdings blieb ich verschont."
Konsequenz dieser Pilgererfahrung: Die menschliche Geschichte versinkt
in Bedeutungslosigkeit. Der Tod entmachtet unsere Projekte, all dies
verschwindet. Das Leben ist Gegenwart. Man muss heute leben, ohne auf
das Morgen zu warten. Wenn man sich darüber klar wird, setzt man
jeden Schritt ganz bewusst: denn jeder könnte dein letzter sein."
Heilige Orte werden eben nicht nach dem Kriterium der Nützlichkeit
festgelegt. Sie sind einfach da, weil Menschen dort die Gegenwart
Gottes spüren. Gott ist überall, aber manchmal muss man ihn
an bestimmten Orten suchen, wie es auch eine Pilger-Geschichte aus
Schottland illustriert:
Ein Mann, der von einer
Pilgerfahrt auf die
heilige Insel Iona zurückkehrt, trifft einen Gärtner. Er
erzählt ihm begeistert von seiner Reise, und die Antwort des
Gärtners verblüfft ihn: "Ja, Iona ist ein sehr dünner
Ort. Es liegt nicht viel zwischen Iona und dem Herrn." Die Menschen,
die - aus welchem Grund auch immer - Sehnsucht haben, Gottes Gegenwart
zu spüren, werden immer einen Weg zu solch "dünnen"
Plätzen finden.
Aus: Wolfgang Engelmaier, in:
"alle Welt", Juli / Aug. 2004, S. 12-15.
|
|
|
|